Schweigend stehen sie im Dunkeln, immer noch starr vor Schreck und der Erkenntnis, dass sie den Anschluss an die Gruppe verloren haben. Die Kälte aus den Mauern zieht ihnen durch Mark und Bein und der modrige Geruch sitzt fest in ihrer Nase. Nichts, außer ihrem schnellen Atem ist zu vernehmen. Es besteht kein Zweifel, sie haben die Gruppe tatsächlich verloren. Leises Wimmern breitet sich in der Stille aus. Florian findet als erster seine Sprache wieder: "Lilly, weinst du etwa?" "Hhhh, schluchz, schnief, hhhhhh, was denkst du denn. Wie sollen wir hier nur je wieder heraus kommen. Wir werden elendig sterben."
"Hör auf Lilly. Wir finden einen Weg.", versucht Marie das Häufchen Elend von Lilly zu ermutigen. Aber das scheint schwieriger, als gedacht. Lilly zittert am ganzen Körper und sieht im Geiste ihr Leben vorbeiziehen. Nie wieder wird sie ihre Kinder sehen. Von den Enkelkindern ganz zu schweigen. Dazu kommt ein unbändiges Gefühl von Hunger und Durst. Es scheinen Stunden vergangen, seit sie das letzte Mal verspeist haben.
"Hier muss es doch irgendwo einen Weg geben, -meint Florian-, aber ich kann einfach nichts sehen. Es ist stockfinster hier drinnen."
"Siehst du, es gibt keine Möglichkeit nach draußen zu gelangen.", heult Lilly erneut auf.
"Tüddellüdellüdüüdüüd, Trallalllalalalaaa, Fideldideldumdidumm.", ertönt aus der Ferne
"Psst, hört doch mal!", flüstert Marie.
"Was denn?", erwidert Florian
""Tüddellüdellüdüüdüüd, Trallalllalalalaaa, Fideldideldumdidumm.", erklingt erneut der Singsang, der inzwischen näher zu kommen scheint.
"Ja, jetzt höre ich es auch.", wirft Lilly ganz aufgeregt ein.
"Hallo, hier sind wir. Haaaaaaaaaloooooooooo.", schreit sie aus Leibeskräften und hüpft auf der Stelle hin und her. Sie ist ganz aus dem Häuschen.
"Sei doch mal still, Lilly.", raunzt Florian sie an.
Stille, nichts ist mehr zu hören. Haben sie sich etwa getäuscht? Plötzlich hören sie leise, tapsige Schritte und in die Dunkelheit und laute Stille tönt eine tiefe Stimme: "Hallo, ist da wer?"
Die drei sind starr vor Schreck und wagen kaum zu atmen. Florian öffnet mutig seinen Schnabel und antwortet: "Ja, wir sind's." Mehr bringt er nicht hervor.
"Wer ist WIR?", brummt eine näherkommende Stimme.
"Wir haben uns verirrt", piepst Marie ängstlich.
"So, so - verlaufen. Was kann man denn da machen?", dringt nun die Stimme ganz nah an ihr Ohr.
Plötzlich erleuchtet die tiefe Dunkelheit im Strahl eines grellen Lichtes. Die drei zucken zusammen und wissen, nicht, wie ihnen geschieht. Noch immer können sie den "Retter" nicht erkennen. Keiner wagt einen Ton von sich zu geben, als der Unbekannte seine Stimme wieder erhebt.
"Na, dann will ich mich mal vorstellen. Ich bin Henry, der Katakombengeist. Ich lebe schon seit vielen Jahren in diesen feuchten und kalten Gewölben. Aber ich habe es mir gemütlich gemacht."
Dann leuchtet Henry mit seiner Taschenlampe an die Decke, so dass die drei Angsthasen ihn erkennen können. Lilly stößt einen Schrei des Entsetzens aus. Marie verkriecht sich hinter Florians Beinen und Florian bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Langsam nähert sich Henry. Er besteht aus einem schwarzen, pummeligen Körper, an dem sich, gut verteilt, acht Beine befinden. Seine dunkelbraunen Augen strahlen Güte und Freundlichkeit aus. Freundlich lächelt er die verängstigten drei Verirrten an.
"Und du lebst hier wirklich?", findet Florian seine Sprache wieder.
"Ja, und das schon seit über zehn Jahren.", antwortet Henry. "Hier ist immer was los. Es kommen Menschen aus aller Herren Länder und hin und wieder lassen sie auch was liegen. So auch dieses nützliche Teil, das Licht in diese Dunkelheit bringt."
"Gehst du denn nie hinaus?", möchte Lilly wissen, die langsam wieder zum Leben erwacht.
"Klar doch. Am Ende des Ganges habe ich einen Weg nach draußen entdeckt. Den benutzt nur keiner mehr, weil er nur in den hinteren Teil Kirche führt. Ihr müsst wissen, dass die Kirche vor vielen Jahren über den Katakomben errichtet wurde und dahinter liegt ein wunderschöner Garten. Aber den finden nur Eingeweihte.", klärt Henry die drei auf.
"Kannst du uns vielleicht hier raus bringen? Uns ist so kalt und wir haben großen Hunger.", fragt Marie mutig ihren Retter.
"Nichts leichter als das. Folgt mir einfach.", fordert Henry die Verirrten auf.
Mit seiner Taschenlampe bringt Henry Licht in das Dunkle und nach wenigen Minuten biegt er nach rechts ab. Am Ende erspähen sie eine uralte Holztüre, die sich mit einem leichten Stoß öffnen
lässt. Aber das vollbringt nur Florian, denn dafür hat Henry, trotz seiner acht Beine, keine Kraft.
Sie treten hinaus in das helle Tageslicht. Sie können kaum ihre Augen öffnen, so grell ist die wärmende Sonne. Aus der Ferne dringen bekannte Laute in ihre Ohren. Es scheinen die Touristen zu sein. Aber das interessiert sie jetzt weniger. Vielmehr sind sie erstaunt von diesem wunderschönen Garten, mit seinen Oliven- und Zitronenbäumen. Lilly bleibt vor Staunen der Mund offen. Sie schafft es dennoch die ersten Worte hervorzubringen: "Hier will ich bleiben."
"Ja, es ist wahrhaftig ein zauberhafter Ort.", bestätigt Marie.
"Also für mich ist das hier nichts. Ich fühle mich am wohlsten in der Luft.", meldet sich nun Florian zu Wort.
Alle drei schauen auf Henry und zucken kurz zusammen. Wenn sie nicht erlebt hätten, was für ein freundlicher Kerl er ist, würden sie spätestens jetzt reiß aus nehmen. Aber immerhin hat er ihr Leben gerettet.
"So, das ist mein Reich. Hier leben noch viele Freunde von mir. Auch solche, wie deine Gattung.", erklärt Henry und schaut dabei auf Lilly.
"Achso, ja. Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Lilly. Das ist Marie und der komische Vogel dort ist Florian."
"Also ich bin Henry, aber das habe ich ja bereits gesagt. Und ich denke mal, ihr habt mächtigen Hunger - oder?",trifft er den Nagel auf den Kopf. "Nicht weit von hier gibt es ein kleines Garten-Café. Dort findet sich immer etwas. Am Besten bringst du mich hin, Florian, dann geht es erheblich schneller.", richtet Henry das Wort an den immer noch recht schweigsamen Florian.
"Kein Problem. Steig auf, halt dich gut fest und dann geht's los. Sag mir einfach wohin die Reise geht.", und schon setzt Florian zum Flug an.
In der Zwischenzeit schauen sich Marie und Lilly in Ruhe um. Ein unglaublich friedlicher Ort. Zwischen den alten Gemäuern, den hohen Gräsern, bunten Wildblumen, schönen Bäumen lässt es sich gewiss gut Leben.
"Ich glaube, ich möchte hierbleiben.", durchbricht Lilly die Stille.
"Das kann ich mir durchaus auch vorstellen.", antwortet Marie.
Beide laufen schweigend nebeneinander her und genießen diesen Ort des Friedens. Aufregung hatten sie wahrlich genug.
Ihr Schweigen wird von der Ankunft der beiden Nahrungssucher unterbrochen. Mit einer scharfen Bremsung landet Florian zwischen zwei Olivenbäumen und kann im letzten Moment seine Flügel in
Sicherheit bringen.
Im Schnabel bewaffnet mit einer Tüte Leckereien. Salatblätter, Ciabatta, Oliven, Fischresten und Allerlei anderen Köstlichkeiten. Ausgehungert und freudig stürzen sich die Vier auf das Festmahl. Lange Zeit herrscht Schweigen. Lediglich das Kauen und Schmatzen dringt in die Stille. Nachdem alle satt und zufrieden im Gras liegen überfällt sie eine bleierne Müdigkeit. Nach wenigen Minuten ist nur noch das gleichmäßige Atmen und ein leichtes Schnarchen zu vernehmen.
Was für ein Erlebnis.
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